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„Bäume kann man nicht mit der Wurzel ausreißen und in den neuen Boden pflanzen“: Geschichten von Krimtataren, die die Deportation überlebt haben

Im Morgengrauen des 18. Mai 1944 mussten rund 200.000 Krimtataren unter dem Druck und Zwang des sowjetischen Sicherheitsdienstes ihre Häuser verlassen und hatten höchstens 15 Minuten Zeit, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Die meisten kehrten nicht mehr zurück.

Damit begann der von den sowjetischen Behörden veranlasste Genozid von Krimtataren. 67 Züge mit Güterwaggons wurden von der Krim auf die Reise geschickt und entwurzelten das ganze Volk mit seiner Sprache, Kultur, Religion und seinem kollektiven Gedächtnis. Erst zwei Tage später, am 20. Mai, berichteten das NKWD (Innenministerium der Sowjetunion) und andere Strafverfolgungsbehörden, die an der Deportation der Krimtataren beteiligt waren, dem Kreml über die „Säuberung“ der Halbinsel.

Krimtatarische Jugendliche auf der Krim vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Foto: Archiv von Hulnara Bekirova

Die Verantwortlichen für dieses Verbrechen wurden nie bestraft, und das moderne Russland hat die Traditionen des stalinistischen Regimes übernommen und versucht weiterhin, die Krimtataren zu vernichten. Nach der Besetzung der Krim im Jahr 2014 wurden sie erneut gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.

Doch diesmal kämpfen sie für ihr Recht, noch zu Lebzeiten in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen, manche sogar mit der Waffe in der Hand.

Stimmen von Überlebenden bei der Deportation

Nach Angaben der Abteilung für Sondersiedlungen des NKWD der UdSSR befanden sich im November 1944 193.865 Krimtataren im Exil: 151.136 in der Usbekischen SSR, 8.597 in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Mari und 4.286 in der Kasachischen SSR. Weitere 30.000 wurden „zum Arbeitseinsatz“ in verschiedene Regionen Sowjetrusslands verteilt. Diese Zahl enthält nicht fast 6.000 Krimtataren, die direkt in den Gulag (das System von Zwangsarbeitslagern in der Sowjetunion) geschickt wurden.

Die Fahrt in die „Sondersiedlungen“ dauerte in der Regel 2-3 Wochen. Die Güterwaggons, in die der Sicherheitsdienst Frauen, Kinder und alte Menschen zwang, waren nicht zum Leben geeignet: kein Wasser, keine Nahrung, nicht einmal eine Toilette. Fast 8.000 Krimtataren starben unterwegs. Für ihre Beerdigung war keine Zeit vorgesehen, die Leichen mussten entlang der Gleise liegen gelassen werden.

Die Multimediaplattform Tamirlar sammelt Geschichten von Krimtataren, die Deportation und Exil überlebt haben.

Said, Jewpatorija

„Ich erinnere mich gut an diese Nacht: Am 18. Mai 1944 war ich zehn Jahre alt. Um vier Uhr morgens kamen die Soldaten in unser Haus. Meine Mutter, ich und drei andere Kinder waren zu Hause. Sie sagten uns, dass wir evakuiert würden und nur 15 Minuten Zeit zum Packen hätten. Niemand erklärte uns etwas. Meine Mutter zog uns in aller Eile innerhalb von 20 Minuten an und um fünf Uhr morgens waren wir am Bahnhof. Wir wurden in Waggons gesteckt, 60 Personen pro Waggon, aber niemand wusste, wohin sie uns bringen würden. Zum Erschießen? Zum Erhängen? Überall waren Panik und Tränen.

Als wir in Samarkand ankamen, wurden wir zum Spartak-Stadion gebracht und in ein Badehaus, um uns zu waschen. Die Kleidung, die wir zurückgelassen hatten, war verbrannt oder gestohlen worden. So sollten wir die Kleidung von verwundeten oder getöteten Soldaten anziehen und danach wurden wir auf die Bezirke verteilt. So kamen wir in das Dorf Tschirek im Bezirk Pajaryk in der Provinz Samarkand.

Die ersten Tage haben wir unter der Schultür geschlafen, dann sind wir zur Arbeit in die Kolchose gegangen. Dort steckten wir uns mit Malaria an. Etwa eine Woche später fingen die Alten an zu sterben, aber es gab nichts, um sie zu begraben. Wir haben uns in Gruppen von 25 bis 30 Leuten zusammengetan, um sie irgendwie gemeinsam zu beerdigen. Ich habe hier meinen Vater verloren, meine Geschwister, und dann ist auch meine Mutter gestorben. Ich habe nur noch eine ältere Schwester.”

Aufgrund des Mangels an sauberem Wasser, an Hygiene und an medizinischer Versorgung breiteten sich Malaria, Ruhr und Gelbfieber unter den Deportierten aus.

Nach Angaben des NKWD der Usbekischen SSR starben allein in den ersten eineinhalb Jahren nach der Deportation 30.000 Krimtataren in Usbekistan. Die Gesamtzahl der während der Deportation umgekommenen Krimtataren schwankt je nach Schätzung zwischen 20 % und 46 %.

Die deportierten Vertreter der einheimischen Bevölkerung erhielten den Status von „Sondermigranten“. Dies bedeutete eine ständige Überwachung durch sowjetische Repressionsstrukturen, Registrierung in Kommandanturen und körperliche Zwangsarbeit bei schweren Tätigkeiten.

Khalidе, Jalta

„In unserer Familie gab es drei Mädchen, einen Bruder, der im Krieg war, meine Mutter und meine Großmutter. An diesem Tag wurde der Mann meiner schwangeren Schwester zur Arbeitsarmee abgeholt. Damit sie nicht allein bleiben, war meine Schwester Euphete bei ihr. Nachts klopfte es an unserer Tür. Nur meine Großmutter, ich und meine Mutter waren zu Hause. Man weckte uns und gab uns 15 Minuten Zeit zum Einpacken. Meine Großmutter nahm den Koran und ein kleines Bündel, das sie für die Beerdigung vorbereitet hatte.

Wir wurden in Güterwaggons geworfen. Dort war es überall sehr schmutzig. Zwei Menschen neben uns sind gestorben. Wir fuhren weiter und sahen, wie andere Waggons Leichen auf der Straße zurückließen…..

Am 6. Juni 1944 wurden wir zum Bahnhof von Сhakulabad in der Gegend von Namangan gebracht. Es war niemand da, als wäre das Dorf ausgestorben. Meine Großmutter kniete nieder und begann das Elham-Gebet zu sprechen. Die Einheimischen schauten aus ihren Höfen — sie hatten Angst. Später waren wir schon in unseren Häusern. Die Einheimischen hungerten wie wir.

Ich war der Gesündeste in unserer Familie, also wurde ich zur Mühle geschickt, um Weizen zu holen. Meine Mutter warnte uns, keine Aprikosen zu essen und kein Wasser zu trinken. In jenem Jahr starben viele Menschen an der Ruhr.“

Das Stalin-Regime rechtfertigte die Vertreibung der Krimtataren von der Halbinsel mit dem haltlosen Vorwurf der Kollaboration mit den Nazis, die die Krim von 1941 bis 1944 besetzt hatten. Die Fakten sagen aber etwas anderes: die Krimtataren waren ein Teil der sowjetischen Armee und kämpften im Zweiten Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland. Insbesondere wurden 21 Krimtataren mit dem Titel „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet, der prominente Pilot krimtatarischer Herkunft, Amet-Khan Sultan, erhielt diesen Titel gleich zweimal.

Die deportierten Vertreter der einheimischen Bevölkerung erhielten den Status von „Sondermigranten“. Dies beinhaltete die ständige Überwachung durch sowjetische Repressionsstrukturen, die Registrierung in Kommandanturen und körperliche Zwangsarbeit bei schweren Tätigkeiten.

Amet Khan Sultan, 1945.
Foto: Ukrainisches Institut für Nationale Erinnerung

Jahrzehntelang verbreitete das kommunistische Regime der UdSSR und später Russlands gezielt den Mythos von den Krimtataren als Verräter. Dieselbe Rhetorik wird heute vom Besatzungsland benutzt, um Feindseligkeit und Schikanen auf der zeitweilig besetzten Krim zu säen.

Stimmen von Rückkehrern

Auch nach Stalins Tod erhielten die Krimtataren weder ihre Rechte zurück noch durften sie in ihre Heimat zurückkehren. Vielmehr wurde das Exil fortgesetzt. Seit 1967 haben die Krimtataren jedoch zahlreiche Versuche unternommen, in ihre Heimat auf der Krim zurückzukehren. Die nationale Bewegung der Krimtataren für die Rückkehr war eine der effektivsten und lebendigsten Protestbewegungen in der UdSSR. Die eigentliche Massenrepatriierung begann 1987.

Die neuen Generationen von Krimtataren, die in ihre Heimat zurückkehren konnten, haben von der Krim vorerst von ihren Eltern oder Großeltern gehört. Die meisten von ihnen hatten jedoch keine Möglichkeit, die Halbinsel so zu sehen, wie es in den Erzählungen ihrer Kindheit geschah.

Isa Akaiev

Kommandeur des Krim-Bataillons

Foto: Persönliches Archiv

„Meine Großmutter mütterlicherseits hat mir am meisten über die Krim erzählt. Sie sprach von Birnen. Sie sagte: „Weißt du, wie die Birnen dort sind? Sie sind wie Honig. Wenn man reinbeißt, zergehen sie auf der Zunge. Wenn sie reif sind, sind sie von der Luft, der Sonne und der Erde der Krim durchdrungen. Nur im Paradies gibt es solche Früchte.”

Sie erzählte von der Natur, der Architektur und den Menschen. Doch als ich 1989 zurückkehrte, war ich enttäuscht. Ich sah die Krim nicht so, wie sie sie in Erinnerung hatte. Ich sah etwas ganz anderes. Dreck, Unordnung überall, Alkoholismus. Niemand wollte uns dort sehen. Das war der ganze Müll, den die Russen dorthin gebracht haben. Das war schwer für mich.

Aber ich bin nach Hause gekommen. Ich fühlte es. Ich wusste, dass ich zu Hause bin. Und all diejenigen, die mich als Neuankömmling bezeichneten, waren die Nachfahren derer, die die Krimtataren deportiert, unsere Häuser zerstört und unser Land gestohlen hatten. 

Sie haben nicht nur Menschen deportiert, sie haben versucht, uns zu vernichten, unsere Sprache, unsere Namen. Sie haben sogar die krimtatarischen Friedhöfe zerstört. Kein einziger krimtatarischer Friedhof aus der Zeit vor 1989 ist erhalten geblieben. Man benutzte die Grabsteine als Fundamente für Kuh- und Schweineställe und baute Treppen zu Vereinen und Dorfräten.

Die Moscheen, die sie nicht zerstören konnten, verwandelten sie in Bars und Clubs. Sie haben die topographischen Namen geändert. Sie haben versucht, uns auszulöschen.”

Die Deportation der Krimtataren war ein Bestandteil der russischen Kolonialpolitik. In die leeren und verlassenen Häuser zogen massenhaft Russen ein. Die krimtatarischen Namen von Städten und Dörfern wurden durch die russischen ersetzt. Die krimtatarischen Schulen wurden zerstört. Die Krim selbst wurde in kurzer Zeit von einer Autonomen Republik in eine Region Krim umgewandelt. 

„Nach der Rückkehr der größten Welle von Krimtataren begann sich die Krim zu verändern“, sagt Isa. „Es entstanden neue Moscheen mit vielen Gläubigen, Schulen mit krimtatarischer Sprache und Orte, an denen sich Krimtataren dicht ansiedelten. Wir hatten alle das Gefühl, nach Hause zurückgekehrt zu sein. Wir waren euphorisch und einfach nur glücklich, dort zu sein.

Ich sage den Jungs (Mitverteidigern – Anm. d. Red.) oft, dass wir auf die Krim zurückkehren und drei Hauptaufgaben haben werden: unsere Sprache, unsere Kultur und unsere Religion wiederzubeleben. Ohne diese sind wir nichts. Bis wir das wiederbelebt haben, können wir keine vollwertige Nation sein.

Diejenigen Krimtataren, die früher in ihre Heimat zurückkehren konnten, wurden von den Russen häufig diskriminiert.

Asiіe, die Krimtatarin und Einwohnerin der Krim

„Wir kamen Ende November 1977 auf der Krim an. Wir waren so untergebracht, dass es keine Fenster, Türen, Böden oder Licht gab. 

Wir waren fünf Kinder, und meine Eltern und meine Großmutter sind mit uns zurückgekommen. Mein jüngerer Bruder war in der Armee. Ich beschloss, ihm zu schreiben, wie wir uns eingelebt hatten. Sein Kommandant half uns. 

An einem Wochenendmorgen kam die Leiterin der Dorfverwaltung zu uns. Sie erzählte meinem Vater, dass wir uns über unsere Lebensbedingungen beschwert hätten. Wir hatten nicht einmal einen Ofen, obwohl es draußen Spätherbst war. Eine Woche später bekamen wir Strom, Fenster aus Glas und einen Fußboden. 

Die Leiterin der Dorfverwaltung in dieser Siedlung war eine Russin, und wir wurden dort schlecht behandelt. Meine Großmutter war damals fast 80 Jahre alt. Da sie nicht arbeiten konnte, weigerte man sich, ihr Brot im örtlichen Laden zu verkaufen. Und das, obwohl sie Geld dabei hatte. 

Dann sind wir an einen viel besseren Ort gezogen. Wir bekamen ein Haus und begannen zu leben.”

Nach der Besatzung der Krim im Jahr 2014 setzte Russland die „Traditionen“ des stalinistischen Regimes fort, indem es die Halbinsel kolonisierte und die Krimtataren vertrieb. Diejenigen, die die Halbinsel nach der Besatzung nicht verließen, waren tagtäglich Repressionen, illegaler Inhaftierung und Verschwindenlassen ausgesetzt. 

In der Nacht zum 27. Februar 2014 besetzten russische Soldaten ohne Abzeichen das Regierungsgebäude der Krim.
Foto: Virtuelles Museum der russischen Aggression

Nach Angaben der Mission des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krim hielt Russland bis April 2024 217 politische Gefangene, darunter 134 Krimtataren, illegal fest. 

„Ich fühle mich auf der Krim nicht mehr wie zu Hause“, fährt Asiіe fort, „wir leben in Angst. Wir machen uns Sorgen um unsere Kinder und Enkel. Wir leben in sehr beängstigenden Zeiten.

Nach der Besatzung wurde es richtig schlimm. Wir werden hier nicht als Menschen angesehen, als ob es keine Krimtataren gäbe und nie gegeben hat. Die Russen tun alles, um sowohl die Ukrainer als auch die Krimtataren zu vernichten”.

Der Staat der Unterdrückung, der Besatzung und des Völkermords

Während seiner gesamten Existenz stützte sich das totalitäre kommunistische Regime auf Verbrechen wie Unterdrückung, Mord, Deportation und Völkermord. 

Schon vor 1944 und dem Genozid der Krimtataren hatte das stalinistische Regime in den Jahren 1932-1933 Millionen Ukrainer durch eine künstlich veranlasste Massenhungersnot getötet. Und das Schwungrad der sowjetischen Unterdrückung kam nie zum Stillstand. Heute ist die Russische Föderation der Nachfolger dieser Praktiken.

Nach der Besetzung der Krim versucht Russland erneut, das nationale Gedächtnis der Krimtataren, ihre Kulturdenkmäler, Bücher, Sprache und Religion zu zerstören. Die meisten politisch motivierten Verfahren gegen die Krimtataren richten sich gegen sie, weil sie Muslime sind. 

Russland duldet keine Unterschiede und keine Vielfalt und betrachtet daher keine andere Nation als eine autonome und freie Nation. Es hat eine multikulturelle und multireligiöse Halbinsel niedergebrannt und ausgeplündert. Und es wird damit fortfahren, bis die Krim befreit ist.

Das muss gestoppt werden, und zwar so schnell wie möglich. Damit die Krimtataren diesmal noch zu Lebzeiten in ihre Heimat zurückkehren können. Damit ihre Kinder das Land der süßesten Birnen mit eigenen Augen sehen und nicht nur aus Erzählungen kennen.